Judith
Meine Erlebnisse sind kaum in Worte zu fassen –zahlreich, abenteuerlich. Ich will euch deshalb einen kurzen Eindruck geben:

Erstens, ich liebe mein Fahrrad!!! :)

Ich radelte schon zweimal in die Berge (die Landschaft in und um Jerusalem ist sehr hügelig), auf den Ölberg und außerdem jeden Tag in die Arbeit und oft in die Altstadt. Gestern war ich mit einem Freund im Toten Meer baden – ein totales Highlight und lustig, weil wir viele Weltenbummler mit großen Rucksäcken im Bus trafen.
Öfters war ich nun schon in Bethlehem in der Westbank und jedes Mal ist es ein neues Erlebnis für mich – einmal durch den Checkpoint ändert sich die Atmosphäre schlagartig. Die kurze Strecke entlang der beschmierten Mauer bedrückt mich sehr. Wenn ich jedoch das Zentrum erreiche, kommt es mir vor, als würden die Menschen aufatmen und sich entspannen. Kommendes Wochenende ziehe ich mit Laura (einer Freundin und Arbeitskollegin aus den USA) zusammen nach Bethlehem, um Arabisch zu lernen und auch den Konflikt besser zu verstehen und physisch zu erleben.


Mauer in Bethlehem; Checkpoint

Nicht nur in meiner Arbeit ist der Nahostkonflikt allgegenwärtig – Menschen vertreten ihre Meinungen überall. Im Bus, auf der Straße, im Cafe. Auch in einem Jugendtreff, wo ich tolle Freunde gefunden habe, war diese Woche Versöhnung das zentrale Thema. Eine junge Israelin erzählte von ihrer Bitterkeit und ihrem früheren Hass auf Palästinenser, weil während der Zweiten Intifada drei ihrer Freundinnen im Schulbus getötet worden waren. Daraufhin war sie zur Armee gegangen - entschlossen, „es ihnen zu zeigen“. Nachdem viele schreckliche Dinge passiert waren, lernte sie zufällig ein Mädchen von der „anderen Seite“ kennen und freundete sich mit ihr an. In der Zwickmühle zwischen Freundschaft und Hass wurde ihr etwas bewusst: „Es ist zu einfach, zu hassen.“ Und sie entschied sich für den schwierigeren Weg der Vergebung. Jetzt hat sie viele palästinensische Freunde/innen hier in der geteilten Stadt Jerusalem und erzählte ihre Geschichte in dieser palästinensisch-israelisch-internationalen Jugendgruppe.
Bewegend.

Ausblick vom Ölberg; Judean Mountains



Und für die ganz Interessierten:



Bei Musalaha arbeite ich nun an mehreren Projekten, habe mich eingelebt und lerne sehr viel – vor allem auf menschlicher Ebene. Durch die Zusammensetzung unseres Teams aus Palästinensern, Israelis und „neutralen“ Mitarbeitern/innen (wie mir) haben wir immer interessante Diskussionen. Einmal monatlich haben wir ein „Curriculum Training“ – letztes Mal redete Josh über verschiedene Arten von Gerechtigkeit mit kurzen geschichtlichen Ausflügen nach Israel, Palästina, Ruanda und Südafrika. Er verglich die Nürnberger Prozesse mit dem Ubuntu Modell in Südafrika. Ersteres brachte Kriegsverbrecher vor Gericht; letzteres bot Tätern (und Opfern) 1996 an, im Austausch für Freiheit vor der Wahrheits- und Versöhnungskommission über Verbrechen während der Apartheid zu berichten und sich öffentlich zu entschuldigen. Welches Modell werden Israelis und Palästinenser wählen, wenn es soweit ist? Wie wird Gerechtigkeit durchgeführt werden? Zum Nachdenken angeregt ...

“Auge um Auge – und die ganze Welt wird blind sein.” Mahatma Ghandi

Außerdem ging es um Identität – die Hauptaussage war, dass alle sowohl die eigene Identität annehmen müssen als auch zusammen eine entwickeln. Beispiele: „Ich bin Deutsche und Europäerin.“ „I am Tutsi and Rwandan.“ Möchte man wahre, innige Versöhnung erreichen, müssen sowohl Vergangenheit als auch Gegenwart vereint werden. Es genügt somit nicht, sich zum Beispiel in Kigali als Tutsi zu benennen, obwohl man im Staat Ruanda lebt. Genausowenig ist es sinnvoll, nur auf seine Identität in Ruanda zu bestehen und seine Herkunft zu vergessen oder zu verdrängen.



مع السلامة
Judith
Ich bin nun seit acht Tagen in Jerusalem und überwältigt. Reizüberflutet, gleichzeitig betroffen und ermutigt sitze ich in einem Cafe am Jaffator – dem Eingang zur Altstadt Jerusalems. Zum einen hielt die letzte Woche viel für mich bereit, zum anderen erzählen Bilder oft mehr als geschriebene Worte; deshalb eine kleine Slideshow ...




Ich komme gerade aus Ma’ale Adumin, einer unter internationalem Recht nicht anerkannten israelischen Siedlung in der palästinensischen Westbank, wo Tali mit ihrer jungen vierköpfigen Famlie lebt. Sie verkaufte mir ihr Fahrrad und lud mich auf Kaffee ein. Wieder in Jerusalem angekommen, gab ich mein Rad zum Service und entdeckte zufällig ein Buchgeschäft mit einem kleinen Cafe im Obergeschoss. Der Inhaber Leor erzählte mir von ihrer Arbeit für sudanesische Flüchtlinge – gratis Hebräischkurse, Spieleabende und einfach zuhören. Da mich diese Arbeit schon immer fasziniert und wie magisch angezogen hat, bot ich meine Hilfe an und verließ den Laden frohen Mutes, glücklich und mit vier neuen Büchern über Israel und Palästina. Leor organisierte mir sogar einen Arabischtutor namens Nahum.

Als wir letzten Freitagabend im Rahmen meiner Arbeit zum Leiterschaftstraining für Israelis und Palästinenser (die meisten aus der Westbank, einer aus Gaza) nach Beit Jala fuhren, machten das Passieren des Checkpoints in die Westbank nach Bethlehem und die immense mit Grafitti beschmierte Mauer die Reise für mich zu einem bewegenden Erlebnis. Die Gesamtsituation hier im Land ist sehr bedrückend und neu für mich – erst hier wurde mir bewusst, wie behütet ich aufgewachsen war. Während des Trainings sah ich junge von Geschichte entzweite Menschen meines Alters, die ihr ganzes Leben nur Stacheldrähte, Militär und die Trennung zweier Seiten kannten. Am meisten berührte mich der verzweifelte und feste Wille, ZUSAMMEN einen Unterschied in dieser Welt zu machen, ZUSAMMEN für Frieden einzutreten und diese Ideen an jüngere Menschen weiterzugeben.

Eine junge Frau sagte bezogen auf Menschen der jeweils anderen Seite:

„Es ist überall möglich, Hummus in einer Million Reiskörner zu finden!“
(die Nadel im Heuhaufen ... ^^)

Deshalb veranstaltet Musalaha Camps in der „neutralen“ Wüste ohne Checkpoints und Militärpräsenz für junge Menschen – dort werden neue Freunde gefunden, Augen auf beiden Seiten geöffnet, Meinungen und Geschichten geteilt. Eisbrecher sind die zusammen erlebten Herausforderungen wie ein gemeinsamer Kamelritt durch die Wüste Negev oder ein sandiger Schlafplatz. Wenn messianische Juden und christliche Palästinenser teilnehmen, finden Bibelarbeiten statt. Sind muslimische Teilnehmer bei Musalaha Veranstaltungen vor Ort, liegt der Fokus noch mehr auf Gruppendynamik. Auch Musalahas Frauengruppe ist ein wichtiger Bestandteil der Arbeit, weil Frauen generell offener für Versöhnung sind und ihre Männer und Familien über sie erreicht werden können.

Meine persönlichen Erfahrungen in Israel sind insgesamt sehr positiv und horizonterweiternd – obwohl ich mich viel verlaufe, mich manchmal nur mit Händen und Füßen verständigen kann, weil wenig Englisch gesprochen wird, und verliere, wenn ich versuche, am arabischen Suq (Markt) zu handeln. Aber mich faszinieren sowohl die Mentalität des Nahen Ostens als auch Jerusalem mit den wunderschönen Stadtmauern, den kleinen Gassen, den versteckten Märkten, vielen neuen Bekannten, Lebensgeschichten der verschiedensten Menschen und vieles mehr.

مع السلامة

Bis bald :)